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Beschwören der Bilder, das ist Literatur
Kuno Raeber
Der Luzerner Kuno Raeber (1922–1992) war für kurze Zeit Novize bei den Jesuiten, danach Universitätshistoriker. Ab Ende der 1950er Jahre lebte er nur noch für sein Werk, das die Sprachbaukunst in den Mittelpunkt stellt. Zuerst erfolgreich als Lyriker bei der Gruppe 47, befreundet mit Bachmann und Enzensberger, macht seine Prosa Kuno Raeber zum Aussenseiter. Unter dem Eindruck von Ovid und Borges schichtet er in seinen enormen Wortgebirgen Vergangenheit und Gegenwart übereinander wie in einem Palimpsest und lässt Gestalten aus Mythos und Wirklichkeit, aus Innen- und Aussenwelt im Maskenspiel der Kunst ineinandergleiten. Ab den 1980er Jahren schrieb er wieder Gedichte. (edition text+kritik)
«Als der Vulkan seine Natur, die er jahrhundertelang versteckt hatte, brummend offenbarte und die Wolkendecke seinen Groll widerspiegelte, erbrachen sie die Kirchen, rissen von den Altären und aus den Sakristeien die silbernen Kopf- und Büsten- und Vollreliquiare und die Glasschreine mit den zähnebleckenden und edelsteingespickten Gebeinen, trugen sie auf den Hauptplatz, stellten sie zu den grossen Kerzen: den Osterleuchtern aus den Apsiden, den Taufkerzen aus den Baptisterien, den Votivkerzen aus den Gnadenkapellen und zogen dann, mit allem beladen, in feierlicher Ordnung, wenn auch schwitzend, die vielen Windungen der Strasse über Bergzehen und –fuss bis zum Stachelbuschwald hinauf. Dort hoben sie laut zu singen an, als ob sich die Gabeläste und Stachelzweige, welche die Kreuze, Fahnen, Reliquiare und Lichter bedrängten, damit zurückschlagen liessen. Doch wenn auch manche Silberbacke eine Ohrfeige einstecken musste und mancher Docht zerquetscht wurde, am Ende erreichten sie ihr Ziel, und alle Behältnisse, geschmückten Skelette, Leuchten und Lampen drängten sich im Grabhaus um die Bahre der Grosspatronin und Präsidentin aller Stadtheiltümer; die den Gnadenbildern abgenommenen silbernen, goldenen, wächsernen und tönernen Votivherzen, -beine, -arme, rümpfe, -wickelkinder und -krücken häuften sich um den Katafalk. …»
Kuno Raeber, Missverständnisse, Werkausgabe Bd. 2, Seite 415 - 416